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ERSTDRUCK: Arnold Schönberg: Sämtliche Werke. Abteilung IV: Orchesterwerke. Reihe A, Band 14.2: Orchesterfragmente. Herausgegeben von Ralf Kwasny. Mainz, Wien 2004, S. 37-70.

Als Audodidakt erprobte Arnold Schönberg sich bereits früh in unterschiedlichen Gattungen. In seinem Frühwerk finden sich Lieder, Klavierwerke, Chorstücke, Arbeiten für kleines Orchester und mehrere Sätze für Streichquartett. Ein besonderes Dokument, das die Entwicklung Schönbergs vom kompositorischen Anfänger zum technisch versierten Orchesterkomponisten erkennen lässt, ist das Fragment der Tondichtung »Frühlings Tod« für großes Orchester nach Nikolaus Lenau. Überliefert sind ein Particell von 255 Takten und eine Partitur von 135 Takten. Das Particell ist auf den 20. Juli 1897 datiert und entstand gerade einmal zwei Jahre nach dem Beginn von Schönbergs hauptberuflicher Musikerlaufbahn: 1895 hatte er seine Position als Bankangestellter gekündigt und verdiente zunächst mit der Leitung von Arbeiterchören sein Einkommen. Am 2. März 1896 erlebte er die erste öffentliche Aufführung eines eigenen Werkes, das »Notturno für Streichorchester und Sologeige«. Angesichts von Schönbergs geringer Erfahrung erweist sich »Frühlings Tod« als außergewöhnliche Leistung eines jungen Komponisten. Das Fragment zeugt von der Beschäftigung mit den beiden großen Figuren der vorhergehenden Komponistengeneration, Johannes Brahms und Richard Wagner. Der Parteienstreit zwischen Anhängern der beiden Musiker war zu Schönbergs Zeiten bereits weitgehend überwunden, wie Schönberg sich Jahre später erinnerte: »Was 1883 eine unüberbrückbare Kluft schien, war 1897 kein Problem mehr. Die größten Musiker jener Zeit, Mahler, Strauss, Reger und viele andere waren unter dem Einfluss beider Meister groß geworden. […] Was damals ein Streitobjekt gewesen war, war zum Unterschied zwischen zwei Persönlichkeiten, zwei Ausdrucksstilen geschrumpft, nicht gegensätzlich genug, die Einbeziehung von Eigenschaften beider in ein Werk zu verhindern« Elemente einer Synthese, die Schönberg am Beispiel seiner Tondichtung »Pelleas und Melisande« erläuterte, lassen sich auch in »Frühlings Tod« nachweisen. Die an Wagners Musikdrama »Tristan und Isolde« angelehnte Harmonik steht neben der von Brahms beeinflussten motivischen Arbeit. Von ähnlicher Bedeutung wie die Meister der Vergangenheit waren jedoch auch zwei Zeitgenossen des Komponisten: »Mahler und Strauss waren in der musikalischen Bühne erschienen und ihre Ankunft so faszinierend, dass sich jeder Musiker sofort dazu gezwungen sah Stellung zu beziehen, pro oder contra. Damals erst 23 Jahre alt, fing ich leicht Feuer und begann einsätzige symphonische Dichtungen zu komponieren.« Die Wende zur Programmmusik kann somit als Versuch des jungen Komponisten gelten, dem musikalischen Zeitgeist Rechnung zu tragen. Richard Strauss war ein wichtiger Förderer von Schönbergs Karriere, er verschaffte ihm einen Lehrauftrag am Stern’schen Konservatorium in Berlin. Über die Textvorlage ergibt sich ebenfalls eine Verbindung zu Strauss: Der Autor des Gedichts »Frühlings Tod«, Nikolaus Lenau, schrieb auch ein unvollendetes dramatisches Gedicht, »Don Juans Tod«, das von Strauss zu einer symphonischen Dichtung verarbeitet wurde.
»Frühlings Tod« von Lenau beinhaltet Passagen, die laut den Analysen von Walter Bailey eine musikalische Illustration durch die Musik geradezu herausfordern – mit Bildern von Frühlingswinden, Stürmen, Nachtigallen und Blitzen. Dieser kompositorischen Aufgabe hat sich der junge Schönberg gewissenhaft gewidmet. Schon in den ersten Takten wird die Textzeile »Warum ihr Lüfte flüstert ihr so bang?« durch wiederkehrende Figuren der Holzbläser und Streicher con sordino ausgestaltet. Die formale Anlage des Werks kann im überlieferten Stadium nur schwer beurteilt werden. Markant ist eine unbegleitete Solokantilene der Klarinette, die mit thematischen Anteilen zwischen den vorausgehenden und nachfolgenden Formabschnitten vermittelt. Unschwer ist der Einfluss Wagners zu erkennen, dessen Praxis der rezitativischen Überleitung zwischen den Szenen der Musikdramen hier nachhallt. Eine prominente Referenz dafür ist das Solo des Englischhorns zu Beginn des dritten Aufzugs von »Tristan und Isolde«.
Warum Schönberg »Frühlings Tod« nicht vollendte, ist ungeklärt. Handwerkliche Mängel hätte er bei weiterer Ausführung des Fragments womöglich noch beseitigt. Kurze Zeit später wandte er sich Richard Dehmels »Verklärte Nacht« op. 4 zu und trat dem Meister der Tondichtung Richard Strauss auf dem Gebiet der Kammermusik gegenüber.
Erst 1984 brachte Riccardo Chailly »Frühlings Tod« mit dem Radio-Symphonie-Orchester Berlin zur Aufführung. Über das Konzert schrieb der Musikkritiker Albrecht Dümling: »Wenn [Schönberg] mit dem sequenzenreichen Hang zur unendlichen Melodie auch dem Zeitgeist huldigte, so ist doch in der konstruktiven Vereinheitlichung der Thematik schon Eigenes zu erkennen. Anders als die unüberhörbar noch an Wagner orientierte chorische Behandlung der Hörner wirkten die wohl als Naturlaut verstandenen solistischen Holzbläser-Partien, vor allem der Oboe und der unbegleiteten Solo-Klarinette, durchaus originell. Es offenbarte sich in diesem mit viel Beifall aufgenommenen Frühwerk ein klangsinnlicher Lyrismus, dazwischen aber auch ein Mut zur Einstimmigkeit, der innerhalb von Schönbergs Oeuvre sonst selten ist.«

Sebastian Slameczka | © Arnold Schönberg Center, Wien